„Mehr als Backstein und Fritten“. Junge Architektur aus Belgien
Der Vortrags- und Gesprächsabend am 14.05.2014 stand ganz im Zeichen der jungen belgischen Architektur. Schon seit Jahren erstaunt uns unser westliches Nachbarland durch eine dynamische junge Architekturszene, die nicht nur durch innovative Ideen und Konzepte, sondern auch durch eine Vielzahl realisierter Projekte von durchgängig hoher Qualität besticht. Drei Büros, die von Architekten in ihren Mittdreißigern geleitet werden, stellten sich im Architekturschaufenster vor. Zunächst gab Georg Schmidthals von And’rol Architekten in Namur einen Einblick in belgische Besonderheiten aus Sicht eines deutschen Einwanderers. Als Faktoren, die den Berufseinstieg für Architekten erleichtern, blieben die Liebe der Belgier zum eigenen Haus in Erinnerung (die für kleine erste Aufträge sorgt) sowie eine Neigung zur Entwicklung unorthodoxer Lösungen, die in dem administrativ und politisch extrem komplexen belgischen Umfeld erforderlich ist, um überhaupt erfolgreich agieren zu können. Die Projekte, die Georg Schmidthals im Anschluss vorstellte, ließen sich ebenso wie die seiner Kollegen Gert Somers von ONO Architektuur aus Antwerpen und Nicolas Firket von NFA aus Bruxelles durchaus zur Untermauerung dieser These heranziehen. Alle drei hatten zumindest ein Einfamilienhaus im Programm, bei dem unter schwierigen Bedingungen und mit engem Budget außergewöhnliche Lösungen mit erstaunlichen räumlichen Qualitäten entstanden. Alle drei arbeiteten dabei auf ungewöhnliche Weise mit dem Titel gebenden Backstein, den einer bekannten Redewendung zufolge echte Belgier schon bei Geburt im Bauch haben. Alle drei machten überzeugend deutlich, mit welcher Lust am Bauen sie sich der Arbeit vor Ort widmen, und dass das Handwerkliche für sie eine große Rolle spielt. Alle drei zeigten aber auch, dass sie mittlerweile auch größere Projekte von der Ausstellungshalle bis zum Städtebau mit der gleichen Sorgfalt bearbeiten; und dass sich bei allen konstatierten Übereinstimmungen des Hintergrunds doch ganz individuelle architektonische Ansätze entwickeln lassen.
In der Pause servierte undergrounddinner klassische Pommes Frites in aufwändig gestalteten Tüten, die stark nachgefragt waren; nicht jeder der anfänglich gut einhundert Gäste hielt danach bis zur Abschlussdiskussion ab 22 Uhr durch. Die im Programm aufgeworfene Frage, ob wir in Deutschland etwas von der Situation in Belgien lernen können, wurde dabei mit einem deutlichen Ja beantwortet; was genau zu lernen ist, war Gegenstand kontroverser Analyse. Das Fachgebiet Architekturkommunikation wird den Blick auch zukünftig nach Nordwesten richten und auf die entstandenen Kontakte aufbauen.
In den letzten Jahren ist in Belgien eine äußerst lebhafte junge Architekturszene entstanden, die sich durch hohe Vielfalt, eine undogmatische Haltung und Mut zum Experiment auszeichnet. Auf der Veranstaltung stellt jeweils ein junges Büro aus Brüssel, aus dem flämischen und aus dem wallonischen Teil Belgiens seine Arbeit vor. Dabei kommen Projekte unterschiedlicher Maßstabsebenen vom Einfamilienhaus bis zum Städtebau zur Sprache. In der anschließenden Diskussion geht es darum zu untersuchen, welche Bedingungen junge ArchitektInnen in Belgien beim Übergang in den Beruf vorfinden, und ob bzw. wie sich diese Bedingungen von denen in Deutschland unterscheiden. Welches Bild von der Architektur hat die Öffentlichkeit in Belgien und wie wird dort über Architektur und Baukultur diskutiert?
Moderation: Riklef Rambow (KIT, a*komm)
Die Veranstaltung wird überwiegend in englischer Sprache durchgeführt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Es werden kleine Speisen und Getränke angeboten.
Georg Schmidthals wurde in Berlin geboren und studierte Architektur in Graz, Brüssel und Cottbus, wo er 2005 diplomierte. Er realisierte als Projektleiter für J. Mayer H. (Berlin) u.a. die Projekte Duplicasa in Stuttgart und das Gerichtsgebäude in Hasselt/Belgien, dessen Projektbegleitung er vor Ort als Partner von Bart Lens und Büroleiter der Brüsseler Dependance von Lens˚ass architecten übernahm. Dort leitete er die großen belgischen und internationalen Projekte des Büros. 2009 und 2010 lehrte er als Gastprofessor an der Antwerpener „Artesis Hogeschool“.
Im Jahr 2012 gründete er in Brüssel zusammen mit Annvéronike Roland das Büro AND’ROL, das seit 2013 von Namur aus Projekte in den Bereichen Interieur und Architektur, vor allem in Belgien, aber auch in Deutschland bearbeitet. AND’ROL realisiert zur Zeit den Wettbewerbsgewinn für Umbau und Erweiterung des Zentrums für moderne Kunst in Charleroi.
Gert Somers und Jonas Lindekens gründeten ONO architectuur 2007 nach Gewinn des Wettbewerbs für ein Gemeindezentrum in Bocholt (NRW). Im Widerspruch zu der Tendenz zunehmender Spezialisierung halten ONO am Anspruch fest, dass Architektur ein Handwerk ist, welches das bauen in seiner Ganzheit betrachtet, vom Städtebau bis zur Türklingel. Das Büro bearbeitet derzeit öffentliche Projekte wie die Sanierung und Erweiterung des UNESCO-geschützten Rathauses von Diksmuide, Wohnbauprojekte u.a. in Antwerpen, Ghent und Mechelen, mehrere Einfamilienhäuser und ein Bürogebäude in Beitem. Ausstellungsgestaltungen für das Museum M in Leuven und die Brussels Art Fair zeugen von dem Interesse des Büros an Fragen der Szenografie.
Gert Somers hat Architektur an der Vrije Universiteit in Brüssel studiert. Nachdem er bei noAarchitecten in Brüssel erste Erfahrungen gesammelt hatte, gründete er 2007 gemeinsam mit Jonas Lindekens in Antwerpen das Büro ONO. Von 2006 bis 2009 lehrte Gert Somers an der Vrije Universiteit in Brüssel, seit 2011 lehrt er an der TU Delft.
Jonas Lindekens studierte in Brüssel und London Architektur. 2005 erhielt er seinen PhD mit Forschungen zu Designfragen im Zusammenhang mit der Umnutzung von Gebäuden. Vor der Gründung von ONO arbeitete er bei META Architectuurbureau in Antwerpen. Seit 1999 lehrt er an der Vrije Universiteit in Brüssel.
Nicolas Firket gründete NFA 2006 in Brüssel. Das Büro bearbeitet sowohl architektonische (z.B. Villa ARRA (2010), Haus in La Hulpe (2010)) als auch städtebauliche Projekte, oft in Kooperation mit internationalen Partnern wie Rem Koolhaas/OMA oder Michel Desvigne. Ein besonderes Anliegen ist die Aufwertung der gebauten europäischen Identität, so wie sie sich exemplarisch in Brüssel darstellt. Deshalb haben sich NFA an allen wichtigen städtebaulichen Entwicklungsprojekten, die in Brüssel in den letzen Jahren durchgeführt wurden, beteiligt, etwa „A new skyline for Brussels“ (2009), die Umgestaltung des Heysel Plateaus (2010) oder die Sanierung des westlichen Teils von Charleroi. 2013 ging NFA gemeinsam mit AUC Paris und Bureau Bas Smets als Sieger aus dem internationalen Wettbewerb für die Umgestaltung des Areals um den Bahnhof Bruxelles Midi (Midi District Masterplan) hervor. Nicolas Firket war zudem Kurator der ersten belgischen Architekturwoche in Brüssel 2013.